(Das erste Kapitel)
Schneeburgen
Bertil Salomaa hatte sich bis zum Hals im Schnee eingraben lassen.
Es war Februarschnee, eisig und hart, darum hatte es ziemliche Mühe bereitet, die Grube auszuheben. Jetzt wurde der Schnee um Bertils Schultern herum noch mit den Spaten geglättet und stabilisiert. Mit dem Schieber schubste Karri einzelne Brocken in die Nähe von Bertils Hals, und die anderen klopften ihn fest. Bertil trug keinen Schal.
Die Schneeburgenfeste in der idyllischen, alten Holzhaussiedlung Tuomela am Rande von Helsinki waren immer ein Erlebnis. Seit Jahren wetteiferten die Nachbarn geradezu darum, wer seinen verschneiten Garten am schönsten geschmückt hatte, mit Lampions und flackernden Lichtern, bei wem sich die Tische unter der Last der Leckereien am märchenhaftesten bogen.
Ein unvergessliches Fest war im Garten der Ahmanens gefeiert worden. Damals war leichter Schnee herabgeschwebt und hatte allmählich die Tische aus Böcken und Bohlen mit einem zarten, weißen Schleier überzogen. Auf den Tischen waren ein Berg Zuckeräpfel, ein Haufen selbst gemachter, in der eigenen Sauna geräucherter Würste und Roggenbrote von einem Meter Durchmesser angerichtet gewesen, und daneben hatte ein Strauß Fahrtenmesser im Holz gesteckt. Drei Lagerfeuer hatten geflackert und geknistert, und über einem davon hatte sich ein ganzes Rentier am Spieß gedreht. Außerdem war eine große Schneeburg errichtet worden, vor der ein gusseiserner Glühweinkessel gedampft hatte.
An diesem Abend nun gehörten aus Schnee geformte Bänke mit Brettern zum Sitzen und Kissen darauf zur Festdekoration, dazu ein palettenförmiger Tisch, auch er aus Schnee geschnitzt, drei Schneeburgen, zu denen von Lichtern gesäumte Pfade führten, Fackeln, die am nächtlichen Himmel leckten, und Artischockensuppe, die über dem offenen Feuer gekocht wurde.
Und Bertil, bis zum Hals im Schnee.
Nach anfänglichem Zögern hatten sich alle über Bertils Einfall amüsiert; in ihrer Absurdität hatte die Idee geradezu etwas von einer Performance.
Die Grube war am Rand des Grundstücks ausgehoben worden, wo der Schnee am tiefsten war. Bertil hatte sich dadurch aufrecht hineinstellen können. In dieser Nacht kam man sich wieder einmal vor wie in einem großen Film: Zwar war man von gnadenloser Kälte umgeben, aber doch auch von sagenhaften Kulissen und von Apfelbäumen, auf denen der Schnee blühte. Die meisten Gäste waren Künstler: Architekten, Maler, Büchermacher.
Bertil, bis zum Hals im Schnee, lachte noch immer und erklärte, ihm sei kalt.
Auch die anderen lachten.
Dann sagte Bertil, er bekomme Atemnot, die Kälte sei schneidend in den Kniekehlen zu spüren, und es drücke ihn auf die Halsschlagader.
»Graben wir den Kerl wieder aus!«, verkündete Osmo Ahmanen resolut. Er war ein echter Naturbursche, ein ernster Typ, der begriff, dass man bestimmte Spiele nicht zu weit treiben durfte.
Wegen ihm war damals auch das Schneeburgenfest bei den Ahmanens mit Rentierbraten und Fahrtenmessern rustikaler ausgefallen als das Fest an diesem Abend.
Olivia, die Gastgeberin, war Innenarchitektin und Galeristin, darum hatte der Schnee in ihrem Garten exklusivere Formen angenommen, staunenswerte und spielerische. Im Hintergrund wachten kunstvolle Schneefiguren mit Tabletts in den Händen über die am Tisch sitzenden Gäste. Serviert wurden natürlich keine in der Sauna geräucherten Würste, sondern prächtiges exotisches, süßes, mit indischen Aromen gewürztes Gebäck, zu abstrakten Gebilden aufgebaute Parfaits, selbst gemachte Bonbons in knalligen Farben, Nusscocktail, eine Auswahl von Früchten, die unterschiedliche Kontinente repräsentierten und von denen ein Teil in der Kälte sofort erfror.
»Im Schnee wird einem nicht kalt, sondern heiß. Der schneidende Schmerz kommt mit Sicherheit von der beeinträchtigten Blutzirkulation«, stellte Osmo fest und nickte Eeva zu, die sich gerade erst hinzugesellt hatte. Beide betrachteten Bertils Gesicht aus der Nähe.
Osmo besaß ein Gefühl für die menschliche Physiologie. Ursprünglich war er Grafiker gewesen, aber wegen seiner rapide nachlassenden Sehfähigkeit hatte er sich schließlich damit abfinden müssen, Sportlehrer zu werden. Er war ein ungestüm wirkender Mann mit schwarzem Bart, von der Erscheinung her ein Zigeuner wie aus einem Dostojewski-Roman oder ein schneidiger Kosak, aber in Wahrheit hatte er nichts Ungestümes an sich, nichts Feuriges, überhaupt kein brennendes Blut. Osmo war ein anständiger Witwer und ein gewissenhafter alleinerziehender Vater.
Und Eeva war eine Frau der Wissenschaft: Biologin.
In Bertils Gesicht flackerte eine erschöpfte, ziemlich leidende Miene auf. »Würdet ihr mich bitte ausgraben«, sagte er mit überraschend schwacher Stimme. »Ich bin ganz starr.«
»Und wenn wir es nicht tun?«, lachte Ilves schon leicht betrunken. Er hatte das Geschehen bis dahin ziemlich unbeteiligt verfolgt. Gelegentlich fühlte er sich unter all den Künstlern irgendwie fremd. Freilich gab er sich, obwohl er Filialleiter einer Bank war, eifrig mit großen Machern aus der Rockszene ab und tourte mit ihnen sogar durchs Ausland. Außerdem sang er. Er besaß eine hervorragende Baritonstimme.
Erst jetzt kam Bertils Frau Amanda dazu und starrte mit aufgerissenen Augen und ohne ein Wort zu sagen auf den Kopf ihres Mannes, der aus dem Schnee ragte.
»Moment! Ich mache ein paar Bilder!«, fiel Karri, dem Gastgeber, ein. Er war einer der Architekten, die in Tuomela lebten, und ausgesprochen visuell orientiert. »Davon muss ich eine Fotoserie machen.«
»Lass uns gleich was Richtiges, breit Angelegtes zum Thema Schnee für die Galerie Tuomi machen«, spann Mikko den Gedanken weiter. Auch er war Architekt, fertigte nebenbei aber die vielfältigsten künstlerischen Installationen an, ganze Felder aus unterschiedlich bemalten Stöcken, Stege, die ins Leere führten, sinnlose Möbel.
»Titel: ›Der Mensch des Nordens‹«, fuhr Karri fort. »Oder noch besser: ›Die Nordische Angst‹.«
»Wir müssen das Graben noch einmal rekonstruieren«, sagte Mikko mit zunehmender Begeisterung. Er zog einen Handschuh aus und schüttelte sich den Reif aus dem roten, zum Pagenkopf geschnittenen Haar.
Olivia, Besitzerin des Gartens, die einen Patchworkmantel aus Kunstpelz trug, brachte ein Tablett mit dampfendem Grog und einer Schale Schokoladenkonfekt.
»Jetzt nehmt doch mal bitte den Spaten in die Hand«, bat Bertil bleich und flüsternd. Seine Lippen schimmerten bläulich.
Die Gesellschaft griff mit ihren Fäustlingen nach den Groggläsern, und es wurde lachend angestoßen. Mikko steckte sich eine Pfeife an und kickte spaßeshalber einige Schneebröckchen in Richtung Bertil. Karri ging in die Hocke, um Bilder zu machen. Olivia nahm einen Grog vom Tablett und hielt ihn Bertil vor das Gesicht.
Bertil sagte nichts mehr. Er war tot.